FemTech: Zwischen Sichtbarkeit und Systemgrenze

Eine soziolinguistische Reflexion über Innovation, Sprache und strukturelle Gleichwertigkeit
Gastbeitrag von Beatrice Schäfer
Sichtbarkeit oder semantische Sackgasse?
FemTech ist in aller Munde – als Hoffnungsträgerin für authentische Diversität im HealthTech-Sektor, als Innovationsfeld für weibliche Gesundheit in all ihren Facetten und als Ausdruck eines wachsenden Bewusstseins für biologische und geschlechtsspezifische Körperrealitäten, die bislang nicht nur unterrepräsentiert, sondern systematisch unsichtbar gehalten wurden.
Doch was bedeutet es wirklich, einem Innovationsfeld eine Kategorie zu geben, die Sichtbarkeit schafft und es zugleich als Ausnahme markiert?
Dieser Artikel lädt dazu ein, FemTech nicht nur als Fortschritt, sondern als sprachliche Konstruktion zu verstehen; durchzogen von unbewussten Machtachsen zwischen linguistischer Normbildung, wirtschaftlicher Steuerung und der Frage: Befreien Kategorien oder begrenzen sie?
Sprache als Architektur der Wirklichkeit
Sprache ist nicht neutral. Sie ist kein Spiegel der Welt, sondern ihr architektonisches Betriebssystem. Worte wie Women’s Literature, Gender Medicine oder FemTech schaffen Sichtbarkeit; zugleich entstehen sie nicht außerhalb von Macht, sondern inmitten historisch gewachsener Diskurse.
Worte sind nicht nur bloße Bezeichnungen, sondern sozial kodierte Identitätsangebote. Was benannt, definiert und kategorisiert wird, erfährt eine andere Behandlung. Was sprachlich als abweichend markiert wird, wird strukturell anders gedacht, finanziert, erforscht und bewertet. FemTech ist hierfür ein exemplarisches Beispiel.
Der Begriff HealthTech ist grammatikalisch nicht neutral - und war es auch nie
Was wir heute als HealthTech bezeichnen, klingt scheinbar objektiv, modern sowie universal – und wirkt auf viele soziokulturell neutral. Doch technologischer Fortschritt war historisch selten inklusiv.
Die zugrunde liegende Norm musste nie benannt werden, weil sie sich selbst für selbstverständlich hielt. HealthTech steht für ein grammatikalisch wie kulturell männlich konnotiertes System. FemTech hingegen benennt das, was aus Sicht des Systems als „abweichend“ gilt.
Daraus entsteht eine paradoxe und bislang weitgehend unterschätzte Situation: Der Begriff FemTech soll Sichtbarkeit schaffen, doch er signalisiert zugleich unterschwellig: „Du bist eine Sonderkategorie.“ Die daraus resultierende Herausforderung ist kein sprachliches Missverständnis, sondern ein tief verankerter Machtmechanismus. Nicht umsonst heißt es: Sprache ist Macht. Und diese sprachliche Macht ist im Deutschen historisch, strukturell und grammatikalisch männlich kodiert.
Semantische Kategorien als Identitätsmaske
Gerade dort, wo wir glauben, durch neue Begriffe Fortschritt zu schaffen, verbergen sich oft die alten Muster. Sie kleiden sich in semantische Kategorien, die mehr über bestehende Machtverhältnisse verraten als über tatsächliche inhaltliche Neuerung.
Wenn wir Menschen und Innovationen benennen, geben wir ihnen nicht nur eine Bezeichnung. Wir geben ihnen eine soziolinguistische Maske. Diese Maske entscheidet, wie wir sie wahrnehmen, behandeln, identifizieren, fördern oder vergessen. Begriffe wie FemTech erfüllen hierbei jedoch sogar eine doppelte Funktion. Sie machen sichtbar, was vorher unsichtbar war und sie reproduzieren – oft ungewollt – eine Struktur, in der das Sichtbare als „anders“ erscheint.
Das Dilemma ist dadurch tiefgreifend. Solange wir neue Begriffe nur innerhalb bestehender Strukturen erzeugen, tragen sie die Matrix ihrer Entstehung weiter in sich, wie eine genetische Kodierung.
FemTech als strategischer Begriff mit systemischer Rückkopplung
Vor diesem Hintergrund war die bewusste Prägung des Begriffs FemTech durch Ida Tin, Mitgründerin der Menstruationsapp Clue, im Jahr 2016 ein notwendiger Akt – ein sprachlicher Versuch, dem Unsichtbaren Sichtbarkeit zu verleihen, ohne die strukturellen Masken gänzlich abzulegen. FemTech hat Investitionsfelder geöffnet, Konferenzen entstehen lassen, Produkte hervorgebracht und Forschung angestoßen. Doch die sprachliche Struktur blieb unberührt: HealthTech steht für männliche Gesundheit und FemTech ist HealthTech aber für „andere Körper“. Daraus resultieren Folgen wie geringere Investitionsquoten, „Lifestyle“-Stempel auf medizinischer Innovation, Pitch-Räume, in denen sich Gründerinnen erklären müssen und eine stille innere Botschaft: „Du gehörst nicht zum Kern.“
In Gesprächen mit Gründer:innen und Investor:innen begegnet mir immer wieder dieselbe stille Spannung: Die Idee ist innovativ, aber der Begriff, unter dem sie läuft, scheint das Feld schon eingegrenzt zu haben, noch bevor es betreten wurde.
Semantische Trojaner – die unsichtbare Zusatzlast englischer Begriffe
Als hätte es der Begriff FemTech nicht schon schwer genug, bringt er zusätzlich ein sprachliches Detail mit systemischer Wirkung mit sich: FemTech ist kein deutsches Wort. Es ist ein Anglizismus, eingebettet in eine deutsche Sprachrealität, die grammatikalisch „gegendert“ und strukturell asymmetrisch ist.
Anglizismen gelten oft als modern, offen und neutral. Doch in ihrer grammatikalischen Integration übernehmen sie unreflektiert den männlichen Standard. So wird aus HealthTech ganz selbstverständlich der HealthTech-Bereich, aus Leader der Leader, aus Founder der Founder – während das Startup kurzerhand mit dem Bild eines männlich konnotierten Gründerideals verschmilzt.
Diese semantischen Strukturen wirken wie sprachliche Trojaner: Sie bringen eine scheinbare Internationalität mit, die sich jedoch einer geschlechtersensiblen Sprachreflexion entzieht und damit alte Machtverhältnisse unter neuem Klangbild unbemerkt weiterträgt.
FemTech steht somit nicht nur für die soziokulturelle Nischenhaftigkeit eines auf weibliche Gesundheit fokussierten Innovationsfeldes, sondern auch für die stille Last importierter, maskuliner Sprachmuster – verborgen im Innern des Begriffs, der auf den ersten Blick weiblich kodiert erscheint.
Sprache, Identität und die Macht der Definition
Genau hier zeigt sich die tiefere Wirksamkeit: Sprache definiert nicht nur Systeme, sondern prägt, wer wir in ihnen sein dürfen. In meiner eigenen Arbeit zu Sprache und Identität frage ich nicht nur: „Wie sprechen wir über Dinge?“, sondern: „Was wird durch Sprache überhaupt erst ermöglicht?“
Jede Benennung ist ein Akt der Identitätsproduktion. Jede Definition weist eine Rolle zu, und jede Rolle kann zur Maske werden. Der Begriff FemTech benennt nicht nur ein Feld, sondern produziert eine sprachliche Identität, die sich – bewusst oder unbewusst – vor einer männlichen Normstruktur rechtfertigen muss. Solange Sprache diese Normstruktur nicht verändert, bleibt Sichtbarkeit ein attraktives Fenster, aber keine Tür in die gleichberechtigte Freiheit.
Von der Türöffnung zur gleichwertigen Neuarchitektur
Doch was, wenn wir die Tür nicht nur öffnen, sondern die Architektur selbst neu entwerfen? Was wäre, wenn wir nicht nur neue Kategorien wie FemTech einführen, sondern die sprachliche Ordnung grundlegend neu strukturieren – hin zu einem zukunftsfähigen System, in dem HealthTech nicht länger implizit männlich konnotiert ist, sondern als neutraler Meta-Container verstanden wird? Gestalt annehmen könnte dies in einem übergeordneten Rahmen, unter dem Subfelder wie FemTech, MaleTech und diversitätssensible Kategorien – etwa QueerTech, DiverTech oder BeyondBinaryTech – sichtbar und gleichberechtigt koexistieren.
Fahrplan der sprachlichen Transformation
Damit eine neue sprachliche Ordnung nicht nur Theorie bleibt, sondern Realität wird, muss sie gedacht, gesprochen und kollektiv gelebt werden, denn Sprache verändert sich nur durch gemeinsame Anwendung, gesellschaftliche Sichtbarkeit und tiefgreifende kulturelle Integration.
In der gegenwärtigen Übergangsphase bedeutet dies konkret, die bislang unsichtbare männliche Norm bewusst zu benennen, um strukturelle Asymmetrien offenzulegen und Begriffe wie FemTech, MaleTech sowie weitere diversitätssensible Kategorien fest im Sprachsystem zu verankern.
Folglich ergibt sich eine strategische Reorganisation des Oberbegriffs HealthTech, der als neutraler Rahmen für alle Körperrealitäten etabliert wird, sodass geschlechtsspezifische Kategorien weiterhin sichtbar bleiben, jedoch ohne den Status der Ausnahme.
Zu guter Letzt geht die langfristige Zielperspektive über die aktuelle Begrifflichkeit hinaus: Sie liegt nicht in einer immer präziseren Geschlechterkategorisierung, sondern in ihrer vollständigen Obsoletheit. Denn in einem idealen System sind sämtliche biologische und soziale Geschlechter in Forschung, Entwicklung, Anwendungen und gesellschaftlicher Wahrnehmung selbstverständlich und gleichwertig integriert.
Die Geschwindigkeit des sprachlichen Wandels
Die Realität der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass gerade in dynamischen Entrepreneurship-Kreisen neue Wortkategorien in erstaunlich kurzer Zeit (6–18 Monate) eingeführt, sozial akzeptiert und reproduziert werden können. Das bedeutet: Bei konsequenter Nutzung, anhaltender Sichtbarkeit und der gezielten Integration in Bildung, Medien, Wissenschaft und Alltagspraxis könnten wir bereits innerhalb nur eines Jahres eine neue, selbstverständliche sprachliche Infrastruktur nicht nur denken, sondern leben. Denn Sprache ist eine bewusst konstruierte Infrastruktur und jedes Konstrukt lässt sich umgestalten. Wer Sprache verändert, verändert die Wirklichkeit, in der sie wirksam wird.
Fazit: Sichtbarkeit ist nicht das Ende, sondern der Anfang der nächsten Frage
FemTech war ein notwendiger Schritt – ein Begriff der marginalisierte Realitäten ins Licht gerückt, Forschung angestoßen und Kapitalströme umgeleitet hat. Bereits heute profitieren Frauen spürbar von der geschaffenen Sichtbarkeit, die tiefgreifende Veränderungen in Strukturen und Normen angestoßen hat. Doch Sichtbarkeit allein reicht nicht. Solange Sprache ein männlich kodiertes System stützt, bleibt Gleichstellung eine Illusion. Wahre Gleichstellung entsteht dort, wo Kategorien nicht länger Hierarchien reproduzieren, sondern Begegnungsräume auf Augenhöhe schaffen. Heute ist FemTech eine Subkategorie von HealthTech, nicht von Tech insgesamt, und bezeichnet Technologien, die speziell auf die gesundheitlichen Bedürfnisse biologisch weiblicher Körper zugeschnitten sind. Langfristig sollte HealthTech alle Körperrealitäten gleichwertig abbilden, ganz ohne die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Kategorien wie FemTech, MaleTech oder anderer diversitätssensibler Tech-Bezeichnungen. Erst wenn diese Vielfalt zur selbstverständlichen Norm geworden ist, kann auf solche Benennungen verzichtet werden – nicht, weil sie an Bedeutung verlieren, sondern weil ihre Gleichwertigkeit gelebte Realität geworden ist.
Wie wäre es zum Abschluss mit einem Gedankenhäppchen zum Mitnehmen:
Welche geschlechtsspezifischer Assoziation weckt FemTech – und welche HealthTech? Ohne langes Nachdenken: Wirkt der erste Begriff auf Anhieb eher weiblich, männlich oder neutral? Und wie sieht es beim zweiten aus?
Und wer Lust hat, tiefer in diese Frage einzutauchen:
Herzlich willkommen zum FemTech Panel 2025 im Rahmen der Entrepreneurship Summit in Berlin. Ich freue mich sehr, das Panel in diesem Jahr zu moderieren und die FemTech-Gründerinnen Maxie Matthiessen, Stephanie Pfeil-Coenen, Polina Sergeeva und Anna Maria Ullmann begrüßen zu dürfen. Gemeinsam laden wir zu einem inspirierenden Austausch ein, der vielfältige Perspektiven auf FemTech vereint – von Sprache und soziokulturellen Dimensionen über Innovation und Zeitgeist bis hin zu Unternehmertum, Herausforderungen und Fragen der Identität.
Für alle, die sich bereits vorab – neben dem sprachlichen Fokus – auch auf das breite Feld von FemTech und Unternehmertum einstimmen möchten: Im Gespräch zwischen Ida Tin, der Begründerin des Begriffs FemTech sowie Mitgründerin von Clue, und Dr. Johanna Richter, Leiterin der Stiftung Entrepreneurship sowie Mitgründerin des Vereins AGBE, eröffnen sich spannende Einblicke in Entstehungsgeschichte, unternehmerische Reise und persönliche Hintergründe. Ein Austausch, der Lust auf mehr macht.
Quellenverzeichnis: Sprache & Diskurs
Bourdieu, Pierre. Language and Symbolic Power. Edited by John B. Thompson, translated by Gino Raymond and Matthew Adamson, Harvard University Press, 1991.
Butler, Judith. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge, 1990.
Faulkner, Wendy. “The Technology Question in Feminism: A View from Feminist Technology Studies.” Women’s Studies International Forum, vol. 24, no. 1, Jan. 2001, pp. 79–95. doi:10.1016/S0277-5395(00)00166-7.
Hall, Stuart. “Who Needs ‘Identity’?” Questions of Cultural Identity, edited by Stuart Hall and Paul du Gay, Sage, 1996, pp. 1–17.
Lakoff, George, and Mark Johnson. Metaphors We Live By. University of Chicago Press, 1980.
Tin, Ida. “The Rise of a New Category: Femtech.” Clue, BioWink GmbH, 9 Nov. 2017, https://helloclue.com/articles/culture/rise-new-category-femtech. Accessed 25 Juli 2025.
Quellenverzeichnis: Daten & Fakten
Aithal, Sahana. “FemTech Industry: The Gendered Edge of Digital Health.” Observer Research Foundation, 14 May 2025, www.orfonline.org/expert-speak/femtech-industry-the-gendered-edge-of-digital-health. Accessed 26 Juli 2025.
FemTech Industry Landscape Q2 2022. FemTech Analytics, Aug. 2022, https://analytics.dkv.global/FemTech/Report-Q2-2022.pdf. Accessed 26 Juli 2025.
“Femtech Market Size, Share, Trends & Value | Growth [2032].” Fortune Business Insights, 21 Juli 2025, https://fortunebusinessinsights.com/femtech-market-107413. Accessed 26 Juli 2025.
“FemTech Market Size Worldwide.” Statista, Juli 2024, https://www.statista.com/statistics/1483460/femtech-market-size-worldwide/. Accessed 26 Juli 2025.
“FemTech Market Overview.” FemTech.Health, FemTech Analytics, 2021, https://www.femtech.health/femtech-market-overview. Accessed 26 Juli 2025.
Kemble, Emma, et al. “The Dawn of the FemTech Revolution.” McKinsey & Company, 14 Feb. 2022, https://www.mckinsey.com/industries/healthcare/our-insights/the-dawn-of-the-femtech-revolution. Accessed 26 Juli 2025.
Topping, Alexandra. “The Huge Disadvantage Women Behind FemTech Phenomenon Face.” The Guardian, 8 Oct. 2024, https://www.theguardian.com/society/2024/oct/08/the-huge-disadvantage-women-behind-femtech-phenomenon-face. Accessed 26 Juli 2025.
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